Der innovative Staat

25. März 2017

Innovations- und Lernfähigkeit werden schon lange als Schlüssel zu Wirtschaftswachstum und Entwicklung gesehen. Von der Dampfmaschine bis hin zu Antibiotika steht technologischer Fortschritt oft am Anfang bedeutsamer gesellschaftlicher Veränderung, die zu einem rapiden Anstieg des globalen Lebensstandards führt.
Allerdings ist Innovation ein komplexer Prozess an dem eine Vielzahl an öffentlichen und privaten Akteuren beteiligt sind. Innovationsgesteuertes Wachstum wird traditionell als ein Kennzeichen von freien Marktwirtschaften angesehen, die durch den Einfallsreichtum innovativer Unternehmer vorangetrieben und einem minimalen Eingreifen des Staates gesichert werden. Der Staat kann jedoch die Richtung für innovative Industrien vorgeben und aktiv sicherstellen, dass die gesamte Gesellschaft von den wirtschaftlichen Vorteilen profitiert. Die entscheidenden Fragen sind deshalb: Wie sehr sollte der Staat eingreifen, um die wachstumsfördernde Kraft von Innovation zu sichern? Können unregulierte Märkte ein optimales Niveau an innovativem Wachstum garantieren?

Befürworter der freien Marktwirtschaft betonen die Vorteile von uneingeschränktem Wettbewerb. Dieser führe, basierend auf Anreizen durch Gewinn und Konkurrenz, zu rasanter Innovation. Der Wirtschaftsexperte William Baumol von der Princeton University findet: „Unter Kapitalismus wird innovatives Handeln, das in anderen Wirtschaftssystemen zufällig und optional geschieht, zu einem zwingend erforderlichen Bestandteil für Unternehmen.“[1] Baumol argumentiert, dass Firmen in hoch innovativen Sektoren als Oligopole agieren und um Innovation anstelle von Preisen konkurrieren. Dies führt zu einem selbsterhaltenden Zyklus von wachstumsfördernder Innovation.[2]

Aus dieser Sichtweise spielt der Staat eine minimale Rolle in der Förderung von Innovation und schreitet nur dann ein, wenn der freie Markt dabei versagt, Ressourcen effizient zu verteilen.[3]

Marktversagen hat allerdings viele Gründe. Ein Mangel von Anreizen für Unternehmer ist einer der Hauptgründe für eine stagnierende Wirtschaft.[4] Unternehmen die als Pioniere in einen neuen Markt eintreten, tragen die höchsten Kosten. Während von den Erkenntnissen, die durch das Einführen eines neuen Produktes auf dem Markt erlangt wurden, spätere Einsteiger profitieren. Diese Ungleichheit macht es für Pioniere unattraktiv, zu Beginn die Kosten für die Entwicklung eines neuen Produktes oder einer neuen Serviceleistung aufzubringen.

Solche Marktineffizienzen dienten in der Vergangenheit oft als Rechtfertigung für staatliche Intervention in der Form von Rentenumverteilung. Mit dieser Art von Industriepolitik übernahmen Staaten durch die Subvention von unternehmerischen Tätigkeiten einen Anteil der anfallenden Markteintrittskosten.[5] Die von der südkoreanischen Regierung ab den 1960er Jahren vorangetriebene Industriepolitik finanzierte so beispielsweise Investitionen in Hyundais Einstieg in die Schifffahrtsindustrie, was Südkorea später zu einem der weltweit führenden Schiffsbauer machte.[6]

Eine weitere Marktineffizienz ist die ungleiche Verteilung von Renditen aus Innovation. Grundsätzlich sollte eine erhöhte Produktivität durch technologische Innovation dafür sorgen, dass es allen bessergeht. Praktisch ist es aber so, dass gewisse Innovationen die Nachfrage nach gering qualifizierten Arbeitskräften verringert und es dadurch sowohl Gewinner als auch Verlierer gibt.[7] Deshalb sollte der Staat eingreifen, wenn technologische Innovation zu Ungleichheit oder Arbeitslosigkeit führt.

Welchen Standpunkt man in dieser Debatte über Marktstruktur und Innovation einnimmt, hat maßgebliche politische Konsequenzen. So haben Regierungen ganz verschiedene politische Ansätze gewählt.

Der Ökonom Joseph Stieglitz ist ein Befürworter des nordischen Modells. Hohe öffentlichen Investitionen in Bildung, Technologie und Entwicklung, ein umfassendes Sozialversicherungssystem und progressive Steuermodelle sind für ihn die Grundlage für Innovationsförderung, mit der soziale Sicherung einhergeht.[8] Das daraus entstehende Gefühl der Absicherung soll Menschen dazu bewegen, auch in risikoreiche unternehmerische Aktivitäten zu investieren.[9]

In ihrem Modell zu nordischer Arbeitsmarktpolitik zeigen der Ökonom Erling Barth und seine Kollegen, dass der hohe Anteil an gewerkschaftlicher Beteiligung in skandinavischen Staaten den Prozess der sogenannten creative destruction (zu Deutsch etwa „schöpferische Zerstörung“) beschleunigt.[10] Dadurch verteilen sich die Arbeiter immer stärker auf produktivere Jobs. In einem Sozialstaat trägt das dazu bei, die Gewinne aus Innovation gerechter über die gesamte Gesellschaft zu verteilen. Dieser Effekt ist umso größer, wenn Einnahmen in die Entwicklung in entscheidende Sektoren wie Bildung und Forschung investiert werden. Der Effekt ist besonders in skandinavischen Staaten sichtbar, wo die öffentlichen Ausgaben für Bildung weltweit am höchsten sind.[11]

Um Innovationen zu unterstützen, ist eine enge Zusammenarbeit zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor ein weiterer entscheidender Faktor, da dieser die Vernetzung und kreative Zusammenarbeit von Firmen, Institutionen und Universitäten fördert.

Eine Regierung kann so koordinierend tätig werden, wo private Firmen von geteilter Technologie profitieren würden, aber selbst nicht die Kapazitäten zur Abstimmung untereinander besitzen. Argentiniens nationales Institut für Landwirtschaftstechnologie beispielsweise hat eng mit den wichtigsten landwirtschaftlichen Akteuren zusammenarbeitet um neue Reissorten mit besonders hohen Erträgen für alle Beteiligten zu entwickeln.

Auch das Internet war größtenteils ein Produkt von staatlich finanzierten und entwickelten Programmen, hauptsächlich durch die American Advanced Research Projects Agency.[12] Die US-amerikanische Ökonomin Mariana Mazzucato hat einen Plan für einen „entrepreneurial state“ (zu Deutsch „unternehmerisch tätiger Staat“) entworfen, in dem der Staat durch Investitionen in Innovation eine dominante Rolle bei der Schaffung und Gestaltung von Märkten einnimmt.[13] Außerdem fordert Mazzucato einen „developmental network state“ (zu Deutsch „vernetzende Staatsintervention“, in dem die Regierung eine zentrale Rolle dabei einnimmt, vielfältige Netzwerke von Akteuren mit unterschiedlicher Spezialisierung und technischem Verständnis zusammenzubringen. Das soll die Entwicklung neuer, origineller Ansätze zur Lösung der wichtigsten Herausforderungen unserer Zeit wie Klimawandel und Armutsbekämpfung fördern.

Enge Beziehungen zwischen dem öffentlichen und privaten Sektor sind allerdings nicht risikofrei. Einer der Hauptkritikpunkte an der freien Marktwirtschaft ist, dass sie zu einem gewinnmaximierenden Verhalten führt sowie zur Manipulation von Politik durch Private.

Einerseits werden dadurch Kapazitäten von wirtschaftlich produktiven Aktivitäten abgezogen, andererseits können Innovationshürden entstehen. Dies geschieht durch einen erschwerten Einstieg für neue Marktteileinehmer und wird durch den Schutz von etablierten Unternehmern erleichtert.

Die Entwicklung starker Institutionen ist deshalb unerlässlich, um solchen Herausforderungen zu begegnen. Irlands staatlich finanzierte Industrial Development Agency ist hoch angesehen für ihren ausgereiften Katalog an objektiven Kriterien, um Industrien mit großem Potential zu identifizieren.[14] Anhand eines solchen Kataloges kann asymmetrische Information vermieden und die Integrität des Auswahlprozesses garantiert werden. Die Qualität der staatlichen Steuerung und koordiniertem Austauschs von Informationen sind notwendige Faktoren für innovatives Wachstum.[15]

Wichtiger als die Entscheidung zwischen staatlicher Intervention und freiem Markt in der Entwicklung innovativer Industrien ist die Frage, wie der Staat und private Akteure zusammen an einer Politik arbeiten können, die Wachstum, Lernen und Innovation ermöglicht. Denn durch die staatliche Förderung von Wissenschaft, Entwicklung und transformativer Innovation kann ein gewaltiges Potential für innovatives Wachstum freigesetzt werden, das der gesamten Gesellschaft nützt.

 

 

Quellen

[1] William J. Baumol, The Free-Market Innovation Machine (Princeton, NJ: Princeton University Press, 2004).

[2] Ibid.

[3] Mariana Mazzucato, Mario Cimoli, Giovanni Dosi, Joseph E. Stiglitz, Michael A. Landesmann, Mario Pianta, Rainer Walz, and Tim Page, 2015, “Which Industrial Policy Does Europe Need?” Intereconomics 50, no. 3 (2015): 120-155.

[4] Dani Rodrik, “Second-Best Institutions,” American Economic Review 98, no. 2 (2008): 100-104, doi:10.1257/aer.98.2.100.

[5] Dani Rodrik, Gene Grossman, and Victor Norman, “Getting Interventions Right: How South Korea And Taiwan Grew Rich,” Economic Policy 10, no. 20 (1995): 53.

[6] Ibid.

[7] Joseph E. Stiglitz and Bruce C. Greenwald, Creating A Learning Society (New York: Columbia University Press, 2015).

[8] Ibid.

[9] Erling Barth, Karl O. Moene, and Fredrik Willumsen, “The Scandinavian Model—An Interpretation,” Journal Of Public Economics 117 (2014): 60-72.

[10] Ibid.

[11] Ibid.

[12] Mariana Mazzucato et al., 2015. “Which Industrial Policy Does Europe Need?”

[13] Mariana Mazzucato, The Entrepreneurial State (Anthem Press, 2013).

[14] Luis Moreno, “Getting Industrial Policy Right,” Project Syndicate, January 23, 2015, https://www.project-syndicate.org/commentary/latin-america-industrial-policy-failures-by-luis-a–moreno-2015-01?barrier=accessreg

[15] Mariana Mazzucato et al., 2015. “Which Industrial Policy Does Europe Need?”

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Vanessa is the Economic Policy Editor and Editing Coordinator for the Paris team. She is in the Master’s of International Economic Policy at Sciences Po Paris. Her particular areas of interest are political economy, development and emerging economies.

Übersetzung

Sarah Bressan, Ramona Hotz & Fabio Thoma